(IP/RVR) Das Bundesverfassungsgericht hatte kürzlich folgenden Fall zu entscheiden:

Ein in Wohnungs- und Teileigentumsgrundbüchern eingetragener und mit einem Mehrfamilienwohnhaus und einer ehemaligen Werkstatt bebauter Grundbesitz kam zur Versteigerung. Im Versteigerungstermin beantragte der Gläubigervertreter ein Gesamtausgebot unter Verzicht auf Einzelausgebote. Die anwesenden Beteiligten stimmten dem Antrag zu. Kurze Zeit später erschien die Eigentümerin. Sie wurde nicht zu der Entscheidung über die Zulassung des Gesamtausgebots unter Verzicht auf Einzelausgebote gehört und hat hierzu nicht ihre Zustimmung erteilt. Das Gericht erteilte dem Meistbietenden den Zuschlag.

Die Schuldnerin legte Zuschlagsbeschwerde ein und machte geltend, dass das Gericht §§ 83 Nr. 2, 63 Abs. 1 ZVG verletzt habe. Da sie noch vor Beginn der Bietstunde erschienen wäre, hätte auch sie dem Unterlassen von Einzelausgeboten zustimmen müssen. Das Landgericht wies die Beschwerde mit der Begründung zurück, dass neue Beteiligte, die erst während der Bietzeit erscheinen, nicht auch noch zustimmen müssen, dass Einzelausgebote unterbleiben. Gegen diesen Beschluss legte die Schuldnerin Anhörungsrüge ein und beanstandete, dass das Landgericht den Sachverhalt evident verfehlt habe. Sie habe ausdrücklich vorgetragen, dass sie noch vor Beginn der Bietzeit erschienen war. Das Landgericht hingegen führt aus, dass sie erst nach der Aufforderung zur Gebotsabgabe anwesend war. Das Landgericht wies die Rüge zurück und verwies insofern ausschließlich auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung. Daraufhin legte die Schuldnerin schließlich Verfassungsbeschwerde ein und führte an, dass die angegriffenen Gerichtsbeschlüsse sie in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten, weil ihr Vorbringen nicht gewürdigt worden sei. Das Bundesverfassungsgericht hat ihrer Beschwerde stattgegeben.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass dies auch geschieht. Um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu belegen, müssen daher im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, aus denen sich der Verstoß ergibt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn wesentliche, das Kernvorbringen eines Beteiligten darstellende Tatsachen unberücksichtigt bleiben, sofern diese nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert sind. Hieraus lässt sich die Pflicht des Gerichts ableiten, die wesentlichen Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten.

Gemessen an diesem Maßstab verletzt der erste Zurückweisungsbeschluss des Landgerichts die Schuldnerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör. Kern ihres Beschwerdevorbringens war, dass sie noch vor Beginn der Bietstunde anwesend gewesen sei. Das Landgericht jedoch legte seiner Entscheidung zugrunde, dass sie erst nach Beginn der Bietstunde erschienen sei. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht eine andere Entscheidung getroffen hätte, wenn es ihr  Vorbringen zur Kenntnis genommen und ernsthaft in Erwägung gezogen hätte. Der Beschluss unterliegt daher der Aufhebung.

Gleichfalls aufzuheben ist der Beschluss, mit welchem die Anhörungsrüge zurückgewiesen wurde. Die Aufhebung erstreckt sich nämlich auf nachfolgende Entscheidungen, welche auf Rechtsbehelfe hin ergangen sind und die vorangegangene Entscheidung bestätigen.

BVerfG, Beschluss vom 26.09.2012, Az. 2 BvR 938/12

 

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